Obdachlose und wohnungslose Menschen schützen

Nothilfeplan jetzt – drohende Katastrophen verhindern!

Gemeinsames Positionspapier von
Aktive aus der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen
Armutsnetzwerk
Bündnis Solidarische Stadt
AK Wohnungsnot
Berliner Obdachlosenhilfe
Schlafplatzorga
Berliner Wohnungslosenparlament in Gründung
(wird noch erweitert und ergänzt)

an den Berliner Senat, die Bezirke, die Wohlfahrtsverbände, die Träger der Wohnungslosenhilfe, die demokratischen politischen Parteien und alle Menschen in Berlin

Berlin, 18.04.2020, 00:00 Uhr

Das Problem

In Berlin sind 37.000 wohnungslose Menschen in zwangsgemeinschaftlichen Massenunterkünften untergebracht. Weitere tausende Menschen sind obdachlos auf der Straße: 1.976 wurden in der sogenannten Nacht der Solidarität am 29.01.2020 erfasst, die tatsächliche Zahl ist weitaus höher, weil viele obdachlose Menschen sich an Orten, an denen nicht gezählt wurde, aufgehalten haben, wie Parks, Friedhöfe, Dachböden usw. oder sich bewußt der Zählung entzogen haben.

Auf der Straße lebende Menschen sind im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie eine medizinisch hoch gefährdete Bevölkerungsgruppe mit eingeschränktem Zugang zum Gesundheitssystem. Verschärfend kommt hinzu:

Die Essensversorgung durch Tafeln und Suppenküchen ist stark reduziert, Einnahmen durch Flaschensammeln, Betteln oder Zeitungsverkauf sind kaum noch zu erzielen, Hygieneregeln so gut wie gar nicht einzuhalten.
Weil Einrichtungen geschlossen sind, fehlen Duschgelegenheiten
der Zugang zu WLAN und Internet, das Aufladen von Smartphones ist kaum noch möglich, die Kommunikation wird extrem eingeschränkt.

„Stay at home!“ ist für auf der Straße lebende Menschen nicht möglich.

Eine Übertragung von Corona-Viren ist durch die besonderen Bedingungen in den Einrichtungen für untergebrachte wohnungslose Menschen kaum einzudämmen, Sammelunterkünfte sind in dieser Situation eine Katastrophe. Die Kältehilfe und Massenunterkünfte für Wohnungslose bieten keinen ausreichenden Pandemie-Schutz. Sie sind im Gegenteil sogar Brandbeschleuniger zur rapiden VirusverbreitunMehrbettzimmer, Gemeinschaftsküchen, Speisesäle und gemeinsame Sanitäranlagen sind in dieser Situation unzumutbar.

Quarantäemaßnahmen in zwangsgemeinschaftlichen Massenunterkünften , die damit einhergehende Gefahr der weiteren Ausbreitung des Virus unter den Bewohner*innen, und die daraus resultierende, berechtigte Angst sind ein soziales Pulverfaß, in dem massive Traumatisierungen, Gewalttaten und Übergriffe drohen.

Auf der anderen Seite gibt es viele spontane, kreative unkonventionelle Ansätze, obdachlose Menschen zu unterstützen. Das sollte unterstützt aber auch kritisch begleitet werden. Was nützt der beste Gabenzaun, wenn es keine Unterbringung im Einzelzimmer gibt?

Seit unserer Pressemitteilung Menschenleben schützen! Massenunterkünfte auflösen! Wohnungen statt Lager! vom 07.04.2020 ist in Berlin wenig passiert. Wir haben den Eindruck, dass viele Menschen, die in Politik, Behörden und Verbänden Verantwortung tragen, in diesen Krisenzeiten einfach abgetaucht sind und nicht in dem Maße, wie wir es erwarten, erreichbar sind und Initiative ergreifen.

Politik, Verwaltung, Träger der Wohnungslosenhilfe und die Zivilgesellschaft sind aufgefordert, jetzt zu handeln!

Wir können nicht warten, bis die Zahl der Ansteckungen in den Massenunterkünften und auf der Straße explodiert und wohnungslose Menschen aufgrund ihrer besonderen Lebenslage mit dem Tode bedroht sind und somit der bisherige Erfolg der Pandemie – Bekämpfung in Frage gestellt wird.

Was jetzt zu tun ist

Wir möchten konkret erläutern, was in Berlin jetzt geschehen muss, um obdachlose und wohnungslose Menschen umgehend zu schützen.

1. Das Infektionsschutzgesetz gilt auch für obdachlose und wohnungslose Menschen!
Deshalb sind alle Menschen, die ohne Obdach auf der Straße oder in Sammelunterkünften mit Gemeinschaftsbädern und/oder – küchen leben, krisenbedingt in Wohnungen, Ferienwohnungen oder Businesspartments unterzubringen.
Falls diese nicht ausreichen, sind die Menschen in Hotels mit Appartementstruktur (individuelle Bad- und Küchenausstattung in Aparthotels) oder Hotels mit Zimmern und eigenem Bad unterzubringen. Wenn eine Hotelunterbringung umgesetzt wird, so muss eine niedrigen Bewohner*innendichte pro Hotel gewährleistet werden.
Vorrangig müssen besonders vulnerable Personengruppen und Familien in Wohnungen untergebracht werden. Eine umfassende Versorgung ist sicherzustellen, dazu gehört im Bedarfsfall auch eine betreute Drogenabgabe.
Alle Varianten müssen menschenwürdige und angemessene Qualitätsstandards mit Blick auf Ausstattung, Bausubstanz, Hygienestandards u.a. erfüllen und unter der Prämisse „Keine Profite mit der Not der Menschen“ angemietet werden.

2. Einzel-Quarantäne gewähren
Wenn Quarantänemaßnahmen nötig werden, dann sind diese als individuelle Einzelquarantänen für Erkrankte und ihre identifizierten Kontaktpersonen in abgeschlossenen Wohneinheiten und Appartements zu realisieren, ggf. auch durch Verlegung in eine geeignete Unterkunft.
Zwangs-Quarantänen für komplette Unterkünfte sind unbedingt zu vermeiden, weil sie die Ausbreitung des Virus noch befördern können, statt sie zu begrenzen. Es ist nach § 30 IFSG auch rechtlich unzulässig, Kranke, Ansteckungsverdächtigte und Gesunde gemeinsam unter Quarantäne zu stellen, vgl. VG Berlin 17.06.2013 VG 14 L 282.13. Siehe auch Flüchtlingsrat Berlin, „Infektions­schutz und Quarantänemaßnahmen für Geflüchtete in Sammelunterkünften menschenrechtskonform umsetzen

3. Kältehilfe übergangsweise fortführen
Kältehilfe ist nicht für Zeiten der Pandemie geeignet. Die Kältehilfe ist als Notlösung so lange weiter zu führen und zu finanzieren, bis die Menschen in Wohnungen oder zumindest Hotels untergebracht werden können.
Dabei gilt: Die Einrichtungen müssen tagsüber offen stehen und den Corona-bedingten Verhaltensregeln angepasst werden. Besondere Teilgruppen (Frauen, Menschen mit Hund, Familien, Alkohol- und Drogenabhängige usw.) sind dabei zu berücksichtigen.
Mitarbeiter*innen der Kältehilfe sollen bei der Umsetzung der Vorschläge eingebunden und auch bei veränderten Angeboten weiter beschäftigt werden.

4. Schutz von obdachlosen Menschen UND MitarbeiterInnen sicherstellen
Auch Haupt- und ehrenamtlich Arbeitende in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe müssen geschützt werden. Das betrifft die Ausrüstung mit Desinfektionsmitteln und Schutzkleidung, die Aufklärung über Gefahren sowie der Schutz vor Überlastung. Eine angemessene Bezahlung ist zu gewährleisten.

5. Rahmenbedingungen schaffen
Der Finanzsenator muss die Finanzierung dieser Maßnahmen sicherstellen (Rettungsschirm für wohnungslose Menschen), der Justizsenator die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen und die Sozialsenatorin zusammen mit den Stadträt*innen der Bezirke und Trägern der Wohnungslosenhilfe die inhaltliche Koordinierung übernehmen und die erforderliche personelle Ausstattung bereitstellen.
Wir sind uns der unterschiedlichen Zuständigkeiten für die verschiedenen Betroffenengruppen bewusst. Allerdings ist die Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales und Integration für die Lenkung und Führung zuständig – insbesondere in der Krise. Die Bezirksämter mit ihren Verwaltungen sind in einer ausführenden Position. Die Verantwortung, ein Soforthilfeprogramm zu entwickeln und umzusetzen, darf nicht auf die Bezirke verlagert werden. Hier muss die von SenIAS seit zwei Jahren vorbereitete „gesamtstädtische Steuerung“ unverzüglich zum Zuge kommen.

6. Krisenstab einrichten zur Umsetzung von Hilfemaßnahmen
Senat, Bezirke, Träger der Wohnungslosenhilfe sollen sofort zusammen mit Wissenschaftler*innen, ehrenamtlichen Hilfeinitiativen und Gruppen der Selbstvertretung einen handlungsfähigen ständigen Krisenstab bilden, der sich über die Lage, die Probleme und den Hilfebedarf ständig informiert und schnell geeignete Lösungen im Sinne unseres Positionspapiers umsetzt und dabei transparent und öffentlich agiert.

7. Lösungsstrategien entwickeln
Auch unkonventionelle und unübliche Lösungsstrategien zum Schutz der Menschen sollen aufgenommen, geprüft und bei Eignung vorbehaltlos umgesetzt werden. In der “Nacht der Solidarität” Ende Januar 2020 waren mehrere tausend Menschen eingebunden, diese Bereitschaft zum Engagement könnte reaktiviert werden.

8. Problembewußtsein und Transparenz bei den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe
Von Problemen in einer Einrichtung haben wir erst durch Hilferufe der dort untergebrachten erfahren. Daher fordern wir: Träger, Einrichtungen und Angebote der Wohnungslosenhilfe dürfen Probleme nicht verschweigen, sondern müssen regelmäßig und transparent über die Umsetzung der Corona-Regeln, auftretende Probleme und benötigte Unterstützungsbedarfe berichten.

9. Berichterstattung zur Lage der obdach- und wohnungslosen Menschen in Berlin
Wir benötigen eine regelmäßige koordinierte und transparente Berichterstattung des Senats und der Bezirke zur Situation wohnungsloser Menschen angesichts der Corona-Pandemie. Das muss von der Politik und der Zivilgesellschaft eingefordert werden.

10. Recht auf Wohnen – Bezahlbare Wohnungen für alle
Die eigentliche Forderung nach angemessenem und bezahlbarem Wohnungen für alle bleibt davon unberührt. Sie muss während und nach der Krise umgesetzt werden, denn eine eigene Wohnung ist Menschenrecht und Gesundheitsvorsorge.
Der Bürgermeister fordert von den BerlinerInnen: „Jetzt geht es darum, zusammenzustehen und diese Krise gemeinsam zu bewältigen.
Wir sagen: Das gilt auch für wohnungslose Menschen! Seien Sie solidarisch!

Autor*innen
Mitgewirkt an diesem Positionspapier haben: Bahar Sanli (Bündnis Solidarische Stadt), Felicitas Karimi (Willkommen im Westend), Frieder Krauß (Berliner Obdachlosenhilfe), Georg Classen (Flüchtlingsrat Berlin), Martin Parlow (AK Wohnungsnot), Stefan Schneider (Selbstvertretung wohnungsloser Menschen)

Kontakt
Stefan Schneider +49 – 177 – 784 73 37 stefan.schneider@wohnungslosentreffen.de
Dirk Dymarski, dirk.dymarski@wohnungslosentreffen.de, +49 – 178 – 932 1661 (ausschließlich per WhatsApp)